Arthur Schopenhauer

Das grundlegend neue Motiv, das Schopenhauer in die Philosophie einführt, ist die Vorrangstellung des Willens, des Willens insbesondere gegenüber der Erkenntnis. Das klingt für heutige Ohren banal, bedeutete aber im 19. Jahrhundert eine echte Revolution. Dessen war sich Schopenhauer voll und ganz bewußt: „Der Grundzug“, schreibt er, „der Grundzug meiner Lehre, welcher sie zu allen je dagewesenen in Gegensatz stellt, ist die gänzliche Sonderung des Willens von der Erkenntnis.“ Dies und genau dies ist die Basis, von der her Schopenhauer zu verstehen ist. Es ist schlechter biographischer Reduktionismus, Schopenhauer einen Pessimisten zu nennen, der, als Pessimist, nichts besseres wußte als den Willen zum Grundstoff unseres geistigen Wesens zu machen. Der Pessimismus Schopenhauers und seine Philosophie des Willens bedingen vielmehr einander gegenseitig: Schopenhauer war Pessimist, weil der Wille für ihn das Primäre des ganzen Organismus war.

Wie kommt es zu diesem Ansatz, zum Primat des Willens vor der Erkenntnis? Das philosophische Denken von Plato bis hin zu Kant ist geleitet von der Überzeugung, daß die Erkenntnis und das Wissen der Grundstoff unseres geistigen Wesens sei. Die sinnfälligen Dinge der Erscheinung sind vergänglich, unbeständig, dem Werden unterworfen und damit der Wahrheit nicht zugänglich. Nur das, was beständig, bleibend, nicht der Zeit unterworfen ist, ist der Wahrheit fähig. Die Geschichte der Philosophie von Platon bis Kant ist in diesem Sinne nichts anderes als der Versuch, das Beständige im Werden zu finden, dasjenige, was sich einer reduktionistischen Relativierung entzieht. Es ist wiederum Kant, der eine Epochenwende dadurch einleitet, indem er aufzeigt und aufweist, daß die Wahrheit als Bedingung möglicher Erfahrung nicht selbst wiederum Gegenstand einer raum-zeitlichen Erfahrung sein kann, daß also jenes Bleibende und Beständige in der Zeit für den Menschen ein unerkennbares „Ding an sich“ bleiben muß.

Dies ist die Stelle, an der Schopenhauer anknüpft. Dieses Ding an sich, obgleich nach Kant der menschlichen Erkenntnis prinzipiell nicht zugänglich, identifiziert Schopenhauer als Wille. Wille nicht als menschlicher Wille, schon gar nicht als von menschlicher Erkenntnis beleuchteter Willkür, sondern Wille meint hier bei Schopenhauer zunächst: Wille alles Seienden, sich im Sein zu erhalten, Selbsterhaltung, blindes Streben nach Dasein und Daseinserhaltung. Bloßer, nackter Wille. Der spezifische Begriff des Willens ist das novum und zugleich der metaphysische Angelpunkt in Schopenhauers Philosophie.

Man nennt Schopenhauers Philosophie somit ganz zurecht eine Willensmetaphysik. Vertritt jemand eine Metaphysik, so geht er von der Voraussetzung aus, daß die sinnfällige Welt der Erscheinungen nicht aus sich selbst erklärbar und verstehbar ist. Ein Phänomen verweist auf ein anderes, und wenn man das eigene Denken nicht willkürlich abbricht, mündet es zuletzt in einen Gegenstandsbereich, der über jede Erfahrung hinausweist. Menschliches Denken muß notwendig etwas setzen und voraussetzen, um Erfahrung ganzheitlich zu verstehen. Noch Immanuel Kant war der Meinung: Metaphysik ist notwendig! Schopenhauer also ist, wie nahezu alle Philosophen vor ihm, Metaphysiker, und weil er den Willen als jenen alles entscheidenden Urgrund ausmacht, der Erfahrung bestimmt und prägt und verständlich macht, so heißt seine Philosophie Metaphysik des Willens, kurz: Willensmetaphysik. Der Wille vertritt bei Schopenhauer das, was bei Platon die Ideen sind, oder in der scholastischen Philosophie Gott, oder bei Descartes das ‚Ich denke‘, oder bei Spinoza die ‚Substanz‘, oder bei Leibniz die ‚Monade‘ usw.

Schopenhauer unternimmt vielfältige Anstrengungen, das Wirken dieses blinden Willens in der Natur, die nichts anderes ist als ein Spiegel dieses Willens, anschaulich zu machen. Alles, was wir in der organischen Natur wahrnehmen, hat eine Funktion, der ein primärer Wille zugrunde liegt: der Hals der Vögel ist in der Regel so lang wie ihre Beine, weil sie ihr Futter von der Erde aufnehmen wollen; bei den Schwimmvögeln dagegen ist der Hals oft sehr viel länger, weil diese ihre Nahrung schwimmend unter der Wasserfläche hervorholen. Sumpfvögel wiederum haben übermäßig hohe Beine, weil sie waten wollen ohne zu ertrinken usw. Wir können all diese Beispiele auf eines zusammenfassen: der Stier stößt nicht, weil er eben Hörner hat (d.h. weil er erkennt, daß er Hörner hat, und dann kommt noch der Wille hinzu, sie auch zu benutzen), sondern weil der Stier stoßen will, hat er Hörner. Schon die jungen Böcke und Kälber stoßen mit dem Kopf, noch bevor sie Hörner haben, weil die Willensrichtung, der ein Glied dienen soll, wirksam ist noch ehe das Glied selbst vorhanden ist. Nicht die Erkenntnis, sondern der Wille ist das ursprüngliche Entwicklungsprinzip der Natur. Jeder Organismus ist der sichtbare Ausdruck einesWillens, welcher zugleich seinen Charakter ausmacht. Dem Äußeren (Erscheinung) entspricht das Innere (Wille).

Wille ist Bewegung und Werden. Ist Streben, Unruhe, Widerstreit. Ist nun der Wille das innere Entwicklungsprinzip der Natur, so gibt es keine bleibende, beständige Wahrheit mehr. Wahrheit ist damit in das Werden gesetzt. Schopenhauer ist in der Tat der erste europäische Philosoph, der diesen Schritt wagt: die Wahrheit ins Werden zu setzen. Was über Jahrtausende als unumstößlich galt – Wahrheit als das Bleibende, als das Feststehende im Wechsel der Zeit, als das, worauf man sich zeitlos verlassen kann, als das Sein im Seienden -, dies ist erstmals mit Schopenhauer in Frage gestellt.

Die Entwicklung des Willens in der Natur nennt Schopenhauer Objektivation des Willens zum Lebens. Die unteren Stufen dieser Objektivation finden wir in der anorganischen Materie als allgemeine Kräfte der Natur, z.B. Gravitation, Elektrizität, Magnetismus, chemische Qualitäten der Anziehung und Abstoßung usw. Je höherstufiger wir diese Objektivation verfolgen, desto mehr Individualität erkennen wir in der Ausdrucksgestalt des objektivierten Willens. Der Individualcharakter der Spezies dominiert mehr und mehr gegenüber dem Allgemeincharaker der Gattung. Dieser Prozeß der Objektivation kann nach Schopenhauer homogen verfolgt werden über die anorganische Natur, über das Leben der Pflanzen, über das tierische Dasein bis hin zum Menschen. Auf der obersten Stufe, beim Menschen, sehen wir die Individualität bedeutend hervortreten.

Aber auch auf der obersten Stufe gilt, was für den Willens, aufgrund seiner wesentlichen Entzweiung mit sich selbst, ganz allgemein gilt: Wille ist Bewegung und Werden. Ist Streben, Unruhe, Widerstreit. Ist Bedürfnis und Mangel. Also Leiden. Eine Daseinsform macht der anderen die Materie, den Raum und die Zeit streitig. Am grellsten sinnfällig wird diese conditio humanum am Beispiel der Bulldogs-Ameise in Australien: wenn man diese Ameise durchschneidet, beginnt ein Kampf zwischen dem Kopf- und dem Schwanzteil; jener greift diesen mit seinem Gebiß an, und dieser wehrt sich durch Schlagen und Stechen.

Hat sich der Wille einmal bis hin zum menschlichen Sein objektiviert, so ist auf dieser Stufe die Erscheinung nicht mehr durch mechanische Kräfte oder bloße Reize bestimmt, sondern der Wille schafft sich das Hilfsmittel der Motive und der Erkenntnis, um sich in dieser Stufe zu objektivieren. Mit diesem Hilfsmittel tritt eine zweite Qualität in die Welt: die Vorstellung. Der Mensch ist nicht nur objektivierter Wille, sondern auch Vorstellung, das heißt: der Mensch kann seinen Willen anschauen, er kann ihn zum Gegenstand einer Betrachtung und Erkenntnis machen. Der Wille, der bis zu dieser Stufe eine erkenntnislose, bloß finster treibende Kraft war, hat sich auf dieser Stufe „ein Licht angezündet.“ Das Licht möglicher Selbsterkenntnis bedingt als Kehrseite den Verlust einer Lebensorientierung aus Instinkt, bedingt als Kehrseite die Möglichkeit, daß die Objektivationen des Willens in der Handlung nun auch verfehlt werden können: Irrtum wird möglich.

Alle Bestimmungen der Schopenhauer’schen Philosophie, einschließlich seine durchaus originelle Morallehre, können aus dem Befund deduziert werden, daß erstens der Wille das primum movens aller Lebensäußerung ist, und daß zweitens im Menschen Wille und Intellekt erstmals weit genug auseinandertreten, um bei ihrem Wiederbegegnen sich übereinander verwundern zu können. Nur der Mensch steht seinem Tod, der als Erscheinung des Willens ebenfalls zum Leben gehört, bewußt gegenüber, und aus diesem Gegenüber entstehen alle Fragen, welche einer bestimmten Antwort nicht fähig sind. Der Mensch ist nicht nur nach Immanual Kant, sondern auch nach seinem Schüler Schopenhauer ein „animal metaphysicum.“

Author: Erich Schönleben
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