Vorwort:
Der auf einem Korpus mit vier Materialvorlagen gründende, interdisziplinäre, kunstwissenschaftliche und kritische Essay von Dr. Natalia Teuber-Terrones verbindet philosophische Kunst- und Ästhetiktheorien (Heidegger, Gabriel, Adorno, Benjamin) mit konkreten Werkanalysen (Rilke, Thorak) zu einer kritischen Untersuchung der einzigartigen Macht der Kunst – ihrer Fähigkeit zur Weltschöpfung und Wahrheitsoffenbarung, ihrer transformatorischen Kraft und ihrer stets präsenten Gefahr durch politische Instrumentalisierung entfremdet zu werden.
„Nicht die Abbildung der Wirklichkeit ist das Ziel der Kunst, sondern die Erschaffung einer eigenen Welt.” sagte der kolumbianische Maler und Bildhauer Fernando Botero (geb. am 19. April 1932 in Medellín (Kolumbien) u. gest. am 15. September 2023 in Monaco). Die Frage des Bezugs zwischen Kunst und Wirklichkeit, bzw. ob es das Ziel der Kunst ist, die Wirklichkeit als solche darzustellen, hat Künstler und Philosophen seit jeher beschäftigt und auch heute steht diese Frage noch offen.
Der Korpus besteht aus 4 Materialvorlagen: Die erste (A) ist das 1908 von Rainer Maria Rilke verfasste Gedicht “Archaischer Torso Apollos”. Dieses Gedicht wurde im 2. Teil, der übrigens dem französischen Bildhauer Auguste Rodin zugedacht war, des Gedichtbandes Neue Gedichte – genauer gesagt: Der Neue Gedichte anderer Teil – (Rilke,1908) veröffentlicht. Bei der zweiten Materialvorlage (B) handelt es sich um eine 1937 entstandene Fotografie von Ewald Gnilka mit dem Titel “Frau mit Medizinball vor einer Skulptur von Josef Thorak auf dem Reichssportfeld in Berlin” (Originaltitel: “Woman with medicine ball in front of a sculpture by Josef Thorak on the Reichssportfeld in Berlin”).

Aufnahmedatum: 1937
Aufnahmeort: Berlin
Plastik / Josef Thorak
Auf dieser Fotografie befindet sich die Skulptur der Faustkämpfer bzw. Boxer, ein 15m hoher Bronzeguss, des Bildhauers Josef Thorak aus dem Jahr 1935, die sich auf dem Gelände des Olympiastadions – damals auch Reichssportfeld genannt – in Berlin befindet. Bei der Materialvorlage C hingegen handelt es sich um eine Rezension über das 2021 veröffentlichte Werk Die Macht der Kunst von Markus Gabriel. Zuletzt handelt es sich bei der Materialvorlage D um einen Auszug eines französischsprachigen Artikels von Patrick Martin-Mattera mit dem Titel „Pouvoir(s) de l’art?“.
Alle vier Dokumente behandeln, auf ihre Weise, die Frage der Natur, bzw. des Ursprungs des Kunstwerks und seinen Bezug zur Wirklichkeit und deren Darstellung. In der Tat kann man das künstlerische Schaffen nicht auf eine realitätstreue Reproduktion der Wirklichkeit reduzieren, auch wenn manche Bewegungen, besonders der Naturalismus in der zweiten Hälfte des XIX. Jh., sich eine wirklichkeitstreue und radikale Darstellung der Realität zum höchsten Anliegen gemacht haben, im Falle des Naturalismus mit dem Anliegen, auf die sozialen und gesellschaftlichen Missstände und Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen. Ausgehend von diesen Tatsachen stellt sich uns folgende Frage: Inwiefern hat das Kunstwerk die ihm eigene Macht, Unsagbares und Verstecktes zu offenbaren?
Zuerst wollen wir uns mit der Natur und den Eigenschaften des Kunstwerks auseinandersetzen. Wenn das Kunstwerk die Macht besitzt, Wahrheiten oder Verstecktes zu offenbaren, besitzt sie nicht auch die Macht, den Menschen und vielleicht sogar die Gesellschaft tiefgründig zu verändern? Bietet diese Macht des Kunstwerkes dann aber nicht auch eine Gelegenheit einer missbräuchlichen Verwendung, z.B. für Propagandazwecke?
Was versteht man eigentlich unter Kunstwerk und welche Eigenschaften machen etwas zum Kunstwerk und ermöglichen es uns, es beispielsweise von einem einfachen Alltagsgegenstand zu unterscheiden?
1936 verfasste Martin Heidegger seinen Text Der Ursprung des Kunstwerks. Hierbei handelt es sich – wie im Titel schon angedeutet – um eine Ursprungstheorie, d.h. um eine Abhandlung über die Frage, wie genau ein Kunstwerk entsteht und was genau es zu einem Kunstwerk macht. Um es noch einmal mit Heideggers Worten auszudrücken: die Ursprungsfrage befasst sich damit, woher eine Sache ihr Wesen hat, d.h. dass es sich hierbei um eine Auseinandersetzung mit der Problematik „Was und wie ist eine Sache?“ handelt. Für Heidegger ist der Künstler der Ursprung des Werks, wie auch das Werk der Ursprung des Künstlers ist. Anders gesagt: Künstler und Werk haben beide ihren Ursprung in der Kunst. Wie in der Materialvorlage D angegeben wird, „ist [für Heidegger] alles Schaffen ein Schöpfen“ (Der Ursprung des Kunstwerks, S. 85-86.), denn für Heidegger steht das Verhältnis zwischen Kunst und Wahrheit im Mittelpunkt. Tatsächlich sieht er den künstlerischen Erschaffungsprozess als das Erschaffen neuer Darstellungen, deren Ursprung sich jedoch auf Elemente, die sich in der Realität, in der Wirklichkeit befinden, zurückführen lässt. Ebenfalls ist es grundlegend zu unterstreichen, dass der Philosoph die Kunst als Dichtung definiert, was für ihn bedeutet, dass durch die Dichtung/Kunst, d.h. in der Sprache und durch die Sprache, die Beziehung zwischen Menschen und Sein verwirklicht und vollbracht werden kann: Im und durch das Kunstwerk vollzieht sich des Menschen Annäherung an die Wahrheit des Seins, was nicht anderes bedeutet als, dass auf der Ebene des Kunstwerks/ der Dichtung die Eröffnung dieser Wahrheit für den Menschen Wirklichkeit wird.
Jedoch ist es unumgänglich, um Heideggers Kunsttheorie richtig verstehen zu können, Heideggers Sein-Begriff kurz zu erläutern, denn es bildet eine der Grundlagen – wenn nicht die ultimative Grundlage – seiner Philosophie. Zuerst muss hier auf Heideggers Unterscheiden zwischen Sein und Seiendem eingegangen werden. Etwas vereinfacht gesagt, bezieht sich das Sein auf den Verständnishorizont, auf dessen Grundlage dem Seienden die Dinge in der Welt begegnen können. Jedoch lässt sich das Sein nicht nur auf den nicht ausdrücklich thematisierten Verständnishorizont reduzieren, da es vor allem eine ontologische Dimension beinhaltet, denn – genauer gesagt – betrifft und definiert das Sein, das, was ist. Um es anders auszudrücken: Das Verstehen wird also mit Sein gleichgesetzt, was also bedeutet, dass nur das ist, was auch verstanden werden kann, denn das, was ist, wurde auch immer schon verstanden. Die Tatsache, dass etwas ist, geht also immer systematisch mit der Tatsache einher, was es ist.
Nach diesem kurzen, aber dennoch unumgänglichen Exkurs, wollen wir nun genauer erläutern, warum Heidegger die Kunst mit der Dichtung gleichsetzt: In der Tat, sieht Heidegger in der Dichtung eine Form der Sprache, welche eine Annäherung zwischen lyrischem Ausdruck und Gedanken bzw. Denken ermöglicht. Somit ist die Dichtung zugleich ein Modus des lyrischen Gesangs (chant poétique auf Französisch), wie auch des Denkens (pensée auf Fr.), was sie zu einer Ursprache macht. Da die Dichtung auf der Sprache baut, ist sie auch eine Auseinandersetzung mit Signifikanten (signifiants auf Fr.) – d.h. Wörtern in ihrer materiellen Form – und Signifikaten (signifiés auf Fr.) – d.h. mit einer psychischen Realität bzw. mit den Sinngehalten, auf die ein Wort verweist.
Man kann hier als Beispiel die Materialvorlage A – das Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ von Rainer Maria Rilke – aufführen. Wir werden später detaillierter auf das Gedicht eingehen, aber können schon vorwegnehmen, dass dieses Gedicht dem französischen Bildhauer Auguste Rodin gewidmet ist. Rilke war von 1905-1906 der Privatsekretär von Rodin, weshalb er die Vorgehensweise und den Schaffensprozess des Bildhauers genau beobachten konnte. Durch Rodin erkannte Rilke, dass ein Künstler die Dinge in einer gewissen Tiefe und Präzision wahrnehmen muss, um sie in ihrer Gesamtheit zu verstehen und darzustellen. Rodin war ebenfalls der Erste, der den Torso als ein abgeschlossenes und in sich vollendetes Kunstwerk verstand, wenn auch nicht im klassischen Sinne. Der Torso ist ein „Fragment“, aber in der Bevorzugung des Unvollkommenen, des Fragments gegenüber der reinen Abbildung bzw. Nachbildung der Natur wird ein neuer Kunstbegriff implantiert. Außerdem handelt es sich bei diesem Gedicht um eines von Rilkes Dinggedichten. Diese Gedichtform, die von Rilke meisterhaft entwickelt wurde, zeichnet sich durch die intensive Betrachtung und Darstellung eines Objektes aus, wodurch das Ding (= Objekt, das Gegenstand des Gedichtes ist) nicht nur beschrieben wird, sondern in seiner Essenz – bzw. in seinem Wesen, wenn man es mit Heideggerschen Begriffen sagen möchte – erfasst wird. Dadurch erreicht die Lyrik tiefere Bedeutungsebenen und durch das Ding-Gedicht drückt Rilke den uralten Dichterwunsch nach Unsterblichkeit aus – erinnert sei hier an Horaz „Monumentum aere perennius“ (= „dem Denkmal dauerhafter als Erz“), der den Produktionsethos der Poeten so formulierte. Wir wollen später noch genauer darauf eingehen, aber es war uns dennoch wichtig, den Text Rilkes hier vorab schon mal als Beispiel zu zitieren.
Die Kunst steht also nicht nur im Zusammenhang mit der Kreativität – d.h. mit der Vorstellungskraft bzw. der Fantasie des Künstlers – sondern auch mit dem Erschaffen, welches Heidegger hier als das Erschaffen neuer Signifikanten versteht, die eine Veränderung des Verständnisses und des Bezugs zu der existierenden Welt mit sich bringen. So schreibt Heidegger: „Das Wesen des Werks liegt darin, dass es eine Welt aufstellt, wodurch es die Erde herstellt.“ Um dieses Zitat zu erläutern, kann man sagen, dass die Dichtung die Urform jeder Kunstform ist, denn in und durch sie wird die Welt erschaffen, in der sie sich entfaltet, wodurch sie auch die „Form“ dieser Welt konditioniert. Dies wird auch in der Materialvorlage D deutlich, als P. Martin-Mattera schreibt : « La poésie en tant qu’elle est action générique de toute forme d’art, […], une ouverture qui le transforme. » Somit ist das künstlerische Schaffen ein Eingriff des Subjekts, welcher sowohl seinem Handeln wie auch seinem Verhalten und den damit einhergehenden Konsequenzen eine Bedeutung bzw. einen Sinn verleiht. Letztendlich zeichnet sich für Heidegger das Kunstwerk dadurch aus, dass die Erde und die Welt sich in einem Streit befinden, der sich im Werk vollzieht. Es handelt sich hierbei um einen Urstreit, der als die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Verbergung versus Entbergung des Wahrheitsgeschehnis zu verstehen ist, d.h. dass dieser Streit das Ereignis ist, das als die Bedingung der Seinsgeschichte fungiert, insofern er das Verständnis des geschichtlichen Wandels des Seins ermöglicht. In diesem Urstreit geraten Lichtung und Verbergung aneinander, weshalb dieser Prozess des Streits sich im Ins-Werk-setzen der Wahrheit vollzieht, wodurch er gleichzeitig auch Wahrheit stiftend ist. Das Kunstwerk eröffnet eine Welt – die als eine Bedeutungseinheit zu verstehen ist, deren Sinnbezüge sich uns im Umgang bzw. durch den Vollzug erschließen – d.h., dass dem Betrachter, im und durch das Kunstwerk, die sinnhafte Totalität von Bezügen und Verweisungen vor Augen geführt wird. Da die Wahrheit hier als die „Aufgedecktheit, d.h. die Unverborgenheit des Seienden“ (Logik – „Die Frage nach der Wahrheit“ In: Gesamtausgabe 21, S.6.) beschrieben wird, ist dessen Konsequenz, dass „Denken der Entwurf der Wahrheit des Seins mit Wort und Begriff [ist]“ (Beiträge zur Philosophie: „Vom Ereignis“ (1936–1938) In : Gesamtausgabe 65, S.21.). Um das zuvor gesagte noch einmal zusammenzufassen: Das Kunstwerk ist, Heideggers Auffassung nach, herstellend, wodurch es sich grundlegend vom „produzierenden“ Zeug oder Ding – d.h. einem Alltagsgegenstand oder Werkzeug- unterscheidet. Im Zeug geht der Stoff in der Dienlichkeit (= was man damit machen kann, wozu es gebraucht wird) auf und verschwindet letztendlich, während das Kunstwerk den Stoff erst erscheinen lässt. Kurzgefasst: Das Kunstwerk macht die Bedeutung selbst, d.h. die Bedeutung an sich, explizit. Beim Betrachten eines Kunstwerks vollzieht sich der Streit Lichtung versus Verbergung dadurch, dass sich der Betrachter zuerst auf die im Kunstwerk dargestellten, sinnhaften, in der Welt verschwindenden Gebilde einlassen können muss, um überhaupt erst verstehen zu können, was hier geschieht. Aber gerade, wenn das zuvor Erwähnte erfolgt, macht das Kunstwerk die Welt als sinnhafte Totalität explizit sichtbar. Das Schaffen des Künstlers ist somit ein Hervorbringen – welches im krassen Gegensatz zum Anfertigen von Zeug bzw. Alltagsgegenständen steht – weshalb das Wesen des Schaffens durch das Wesen des Werks bestimmt wird. In der Tat besteht das Wesen des Kunstwerks in dem Sich-Einrichten, d.h. in dem Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit und das Geschaffen-Sein des Werks residiert eben gerade in dem im Kunstwerk in Gestalt gebrachten Streit, dessen Bedeutung und Rolle wir zuvor erläutert haben. Hier können wir eine Verbindung mit der Materialvorlage C, also der Rezension über das Werk Die Macht der Kunst von Markus Gabriel, herstellen: „Kunstwerke werden durch ihre individuelle Komposition definiert. […] Man kann über Begriffe verfügen, ohne Worte zu haben, um diese sprachlich auszudrücken.“ In der Tat ist für Gabriel die Komposition eines Kunstwerks – Komposition, die das Kunstwerk als solches definiert – eine Kombination aus Sinnbildern. Hier ist es angebracht, daran zu erinnern, dass auch der Termini „Begriff” als eine Komposition aus Sinnfeldern zu verstehen ist. Jedoch bauen die Begriffe, die es uns ermöglichen, die Welt, die Phänomene und unsere Erfahrungen einzuordnen und zu verstehen, nicht immer auf Wörtern, durch die ein verbaler bzw. sprachlicher Ausdruck dieser Sinnfelder möglich ist. In der Tat definiert Markus Gabriel das Kunstwerk als „radikal und autonom“. Weiter noch: „Die Kunst [ist] das Absolute, aus dem der Mensch seine Identität schöpft“, denn sie besitzt die Macht, die sogar der Künstler nicht lenken kann, in uns eine Verwandlung herbeizuführen. Auch wenn Gabriel die Macht der Kunst nicht so versteht, wie es Heidegger tut, lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Gabriel versteht die Macht der Kunst als eine in der ästhetischen Erfahrung stattfindende Offenbarung – welche sowohl gut als auch schlecht sein kann – und definiert den Ursprung des Kunstwerks als unsere Wahrnehmung der Objekte, denn „Vorstellung bedingt die Wahrnehmung der Wirklichkeit.” Wenn man die Wahrnehmung als jene Funktion versteht, die uns die Bildung sinnlicher Repräsentationen äußerer Objekte ermöglicht und den – in der Philosophie vieldeutigen – Begriff „Vorstellung” als sich generell auf einen mentalen Prozess bzw. Zustand und dessen (potentiellen) Gehalt beziehend versteht, dann ist es die Vorstellungskraft, die es uns ermöglicht, die sich im Empfinden unmittelbar manifestierenden Sinneseindrücke neu zusammenzusetzen. Demzufolge kommen die Empfänglichkeit für eine äußere Gegebenheit und die geistige Aktivität in der Wahrnehmung zusammen, auch wenn die Wahrnehmung nicht immer realitätsgetreu ist, da Einflüsse von Kultur, Gemüt, Sprache, Weltanschauung usw. eine gewisse Auswirkung haben können, wodurch sich die Wahrnehmung (manchmal, mehr oder weniger) als subjektiv erweisen kann. Markus Gabriel „befreit die Kunst von alten Denkschemata”, greift die in der Philosophie oft angesprochene Idee der „ästhetischen Erfahrung” auf, die die ganze eigene Macht besitzt, den Menschen zu verändern. Aber darauf wollen wir in dem, was noch folgen wird, näher eingehen.
Somit sprechen Markus Gabriel und Martin Heidegger der Kunst eine Macht zu, die nur sie allein besitzt und die darin besteht, uns etwas – oft Verstecktes und Unsagbares – zu offenbaren, wenn auch beide Autoren den Inhalt und den Ursprung dieser Offenbarung, wie auch die, dadurch im Betrachter hervorgerufene, Verwandlung unterschiedlich verstehen. Aber wie genau vollzieht sich diese Veränderung des Menschen? Worin besteht sie genau? Und wenn das Kunstwerk die ihm allein zugeschriebene Macht besitzt, durch die Offenbarung von Wahrheiten oder Verstecktem, den Menschen tiefgründig zu verändern, besitzt es dann nicht auch die Macht, Veränderungen in der Gesellschaft herbeizuführen?
Wie zuvor angesprochen, werden von vielen Intellektuellen, seien es Philosophen, Lyriker, Künstler usw., dem Kunstwerk besondere und ihm eigene Mächte zugesprochen. Diesen Standpunkt vertritt, wenn auch auf eine sehr persönliche Weise, Rainer Maria Rilke in seiner Kunst- u. Lyrikauffassung. Sein Gedicht „Archaischer Torso Apollos“ (Materialvorlage A) ist hierfür ein ausschlaggebendes Beispiel, wie wir es zuvor schon – wenn auch recht kurz gefasst – angedeutet haben, weshalb wir nun genauer darauf eingehen möchten. Zuerst wollen wir uns mit der Form des Gedichtes befassen. Es besteht aus 98 Wörtern, 14 Versen und 4 Strophen: die ersten beiden bestehen aus jeweils 4 Versen, mit dem Reimschema a/b/b/a in der ersten und c/d/d/c in der zweiten Strophe, während die beiden letzten Strophen aus jeweils 3 Versen bestehen und folgendes Reimschema aufweisen: e/e/f in der dritten Strophe und schließlich g/f/g in der letzten Strophe. Kurz gefasst handelt es sich in den beiden ersten Strophen um umarmende Reime, in denen die männlichen Kadenzen übrigens die weiblichen einschließen (m – w – w – m), in der dritten Strophe hingegen handelt es sich um Paarreime, während in der vierten und letzten Strophe wiederum Kreuzreime auftreten. Hinzu kommt, dass das Metrum durchgehend aus fünfhebigen Jamben besteht. Was den Inhalt des Gedichts betrifft: Wie zuvor schon angesprochen, handelt es sich hierbei um eines von Rilkes berühmten Dinggedichten, welches einen archaischen Torso – also eine Statue aus der griechischen Antike – beschreibt. Des weiteren kann hier noch einmal betont bzw. wiederholt werden, dass dieses Gedicht eine Hommage an Auguste Rodin ist, denn Rilke stand dem französischen Bildhauer sehr nahe, weshalb es auch keineswegs verwunderlich ist, dass er sehr stark von dessen Kunst beeinflusst wurde und diese seine Kunstauffassung grundlegend geprägt hat. Die Struktur der Beschreibung des Torsos – d.h. der Aufbau des Gedichts – ist kurz zusammengefasst wie folgt: In der ersten Strophe – d.h. in den Versen 1-4 bzw. bis zur Mitte des 5. Verses, da es ein Enjambement gibt, welches von Vers 4 auf Vers 5 übergeht, wodurch es die ersten beiden Strophen miteinander verbindet – beschreibt Rilke das Nichtvorhandensein des Kopfes. Der 3. Vers beinhaltet eine Metapher, in welcher der Torso mit einem „Kandelaber“ (= achtarmiger Kerzenhalter) verglichen wird. In der zweiten Strophe hingegen wird nicht nur auf die fehlenden Gliedmaßen des Torsos eingegangen, sondern auch auf die fehlenden Geschlechtsteile („zu jener Mitte, die die Zeugung trug“ V.8.). Hier kann unterstrichen werden, dass Rilke dem Rhythmus eine besondere Achtsamkeit entgegengebracht hat, denn auch in dieser Strophe treten Enjambements auf (zwischen V. 5 u. 6 und zwischen V. 7 u. 8), deren Effekt durch Alliterationen noch verstärkt wird (z.B. „der Bug der Brust dich blenden“ V.5-6.). Wie schon zuvor gesagt, handelt es sich bei dem Reimschema der ersten beiden Strophen um umarmende Reime, aber in der dritten Strophe verändert sich das Reimschema plötzlich, da nun Paarreime auftreten. Dieser Wechsel ist kein Zufall, sondern kennzeichnet formal einen Bruch in der Struktur des Gedichtes, da es sich hier um eine Überleitung zur dramatischen Wendung der 4. und letzten Strophe handelt. In der Tat wird hier der Torso aus der Ebene der reinen Beschreibung enthoben (V.9. „Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz”), um im V. 11 („und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle“) in eine höhere Bedeutungsebene geschoben zu werden. In der letzten Strophe vollzieht sich ein Bruch, bzw. ein Tausch, der Betrachtungsebene (V. 13-14. „denn da ist keine Stelle/ die dich nicht sieht”). Demzufolge wird hier der Torso vom Objekt zum betrachtenden Subjekt, wodurch hier der Betrachter wiederum zum Objekt degradiert wird. Das Gedicht endet nach diesem Wechsel der Betrachtungsperspektive mit einem imperativen Appel, das wie aus dem Nichts aufzutauchen scheint: „Du musst dein Leben ändern.” (V. 13) Wie schon zuvor gesagt, handelt es sich hierbei um ein Dinggedicht, dessen Bedeutung wir ebenfalls schon definiert haben. In einem Brief an Lou Andreas-Salomé aus dem Jahr 1903 schrieb Rilke: „Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit. Das Modell scheint, das Kunst-Ding ist.” Des Weiteren schreibt Rilke, dass die Kunst „ganz getragen von Gesetz “ ist, d.h., dass sie ein Ergebnis von “Disziplin”, “Arbeitenkönnen und Arbeitenmüssen “ ist. Das Kunstwerk ist somit mehr als ein Artefakt, denn es stellt einen Anspruch an den Betrachter, der vor diesem bestehen oder versagen kann. In der 2. Strophe spricht Rilke von dem Licht, das von dem Stein ausgeht, der „glüht“, „glänzt“ und demzufolge auch „blenden” kann, und welches als eine Metapher der Wahrheit zu verstehen ist. In der 3. Strophe geht dieses Leuchten schließlich in Bewegung über, denn es „flimmert” (V.11), bricht über seine Grenzen hinaus und blickt den Betrachter an. Zuletzt mündet das Gedicht in einem Imperativ, der jedoch keinesfalls als ein Aufruf, zu einer lebensreformerischen oder innenarchitektonischen Änderung der Lebensweise, zu verstehen ist, obwohl die zur Entstehungszeit des Gedichts gegründeten Reformhäuser und die künstlerische Bewegung des Jugendstils (vorwiegend bekannt für seine Architektur und Innenarchitektur) eine solche Interpretation suggerieren könnten. Gleichzeitig ist dieser Imperativ aber auch nicht wie ein Katalog von Geboten zu verstehen, wie sie den Juden im Dekalog und den Muslimen im Koran bzw. Hadit verpflichtet sind. Anders ausgedrückt leuchtet aus dem Torso die Wahrheit und dieser Glanz „bricht [in Kafkas Türhüter Parabel] unverlöschlich aus der Tür des Gesetzes“ (Das Schloss). In der Tat wird das hier von Kafka erwähnte Gesetz, ebenso wenig wie die Aufforderung von Rilke, weder definiert noch kodifiziert. Anschließend können wir also sagen: Es ist das individuelle Gesetz des eigenen Lebens, das uns im Kunstwerk begegnet, d.h. dass sich uns in und durch das Kunstwerk unsere eigenen unverwirklichten Möglichkeiten offenbaren. Vielleicht können wir diese erahnen, aber trotzdem können wir diese nicht artikulieren, da sie bisher nur möglich sind und nicht wirklich. Demzufolge begegnen wir ihnen nur in einem Akt freier Erkenntnis. Somit besitzt Rilkes Auffassung nach die Kunst die Macht, eine Veränderung im Menschen zu provozieren, indem sie ihm seine unverwirklichten Möglichkeiten offenbart.
Auch Markus Gabriel (Materialvorlage C) spricht der Kunst eine besondere Macht zu, „die selbst der Künstler nicht lenken kann”, und die auf ästhetischer Erfahrung baut. Die Idee der ästhetischen Erfahrung ist grundlegend in der Philosophie und wird von je nach Philosoph, Bewegung oder Epoche anders verstanden und definiert. Jedoch kann man zusammenfassend und vereinfacht sagen, dass ästhetische Erfahrungen ihren Ursprung immer in der Sinnlichkeit unserer Wahrnehmung haben und sowohl rezeptiv oder produktiv erlebt werden können, d.h. in der Wahrnehmung ästhetischer Objekte und/oder Phänomene, wie auch beim Ausüben und Ausleben der eigenen ästhetischen Praxis. Ebenfalls kann der Mensch in alltäglichen Zusammenhängen eine ästhetische Erfahrung machen, z.B. während eines überwältigenden Naturerlebnisses. Demzufolge kann man die ästhetische Erfahrung als einen Bildungsprozess, d.h. eine sich im Inneren des Menschen vollziehende Entwicklung bzw. Veränderung, verstehen. In einem 1994 veröffentlichten Artikel („Das Ästhetische ist: Das Andere der Vernunft” In: Friedrich Jahresheft XII/1994 S.56-58.) schreibt Günter Otto dazu klar und zusammenfassend: Die ästhetische Erfahrung „ist ein Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren.” Auch wird in der Rezension über das Werk Markus Gabriels eine Parallele zu der Kunstphilosophie von Theodor Adorno – deutscher Philosoph des 20. Jh., Anhänger der in der Nachkriegszeit bekannten Frankfurter Schule – erstellt. Wie der Autor es zusammenfasst, entzieht sich Kunst, für Adorno, „jeder begrifflichen Kategorisierung”. Darauf wollen wir nun näher eingehen: In seiner Ästhetischen Theorie (1970 aus dem Nachlass) geht Adorno auf den Doppelcharakter der Kunst – der von Autonomie und fait social – ein. Mit fait social meint Adorno hier folgendes: Das Kunstwerk ist ein Produkt gesellschaftlicher und geistiger Arbeit, welches aber der Gefahr ausgesetzt ist, zu einer Ware zu werden. Jedoch zeichnet das Kunstwerk sich, eben gerade, durch seine zuvor angesprochene Autonomie, dadurch aus, dass es eben Dank und durch diese ihm eigene Autonomie den Warencharakter abstreifen kann. Genauer gesagt sind Kunstwerke, für Adorno, sogar das Gegenteil von Waren und Ideologien, da sie durch ihre Essenz für Glücksversprechen stehen. „Die Kunst spricht aus, was die Ideologie verbirgt.” Somit vertritt Adorno die Auffassung, welcher nach die Kunst die Macht besitzt, die Wahrheit über die Gesellschaft zu sagen, wenn auch dieser Ausdruck der Wahrheit in einer anderen Sprache erfolgt, als in der Gesellschaft, wo Aussagen und Ausdrücke im und durch das Medium des Begriffs stattfinden. Des Weiteren ist Kunst eben gerade Kunst durch die Mittel und Formen ihrer Gestaltung. Jedoch besitzt die Kunst auch ein essentiellen sozialen Gehalt, der sich wie folgt erläutern lässt: Zuerst wirken Gesellschaft und sozio-historische Begebenheiten – wir z.B. Klassenkämpfe – auf die Werkstruktur ein. Um es wie Adorno selbst zu sagen: Kunstwerke sind „die ihrer selbst unbewußte Geschichtsschreibung ihrer Epoche.” Schließlich wirken Kunstwerke, durch ihre „immanente Bewegung gegen die Gesellschaft “, auf die Gesellschaft zurück.
Schlussfolgernd lässt sich also sagen, dass sich in den Kunstwerken zugleich Denunziation der bestehenden und Antizipation der befreiten Gesellschaft verkörpern, wodurch die Kunst nicht nur die Macht besitzt, den Menschen zu verändern, sondern auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann. Jedoch kann diese Macht der Kunst, Veränderungen in Menschen und Gesellschaft hervorzubringen, nicht auch missbraucht werden und somit schleichende Gefahren mit sich bringen?
Um uns mit der Frage einer missbräuchlichen Verwendung der Macht der Kunst auseinanderzusetzen, wollen wir zuerst auf ein, in der Rezension über Die Macht der Kunst (Materialvorlage C) aufgeführtes Beispiel näher eingehen: Das „Benjamin’sche Diktum der Zerstörung einer mysteriösen Aura durch die technische Reproduzierbarkeit“. Walter Benjamin verfasste und publizierte 1935, aus seinem Pariser Exil, infolge der Machtergreifung durch Adolf Hitler und die Nationalsozialisten, seine Abhandlung Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In diesem Werk vertritt Benjamin die folgende These: Sowohl die Kunst an sich, wie auch ihre Rezeption, sind im aktuellen Zeitalter einem Wandel unterworfen, welcher besonders auf die Entwicklung von Photographie und Film zurückzuführen ist. Tatsächlich bieten diese Medien die Möglichkeit einer massenhaften Reproduktion, einer (eventuell) veränderten bzw. verzerrten Abbildung der Wirklichkeit, welche eingehend mit einer Veränderung der kollektiven Wahrnehmung sein könnte. In und durch diesen Prozess verändert sich nicht nur die soziale Funktion der Medien, sondern das Kunstwerk droht in diesem Kontext auch seine Aura zu verlieren. Ausgehend von diesen Beobachtungen, die sehr stark an den sozio historischen Kontext und an das Zeitgeschehen gebunden sind, schlussfolgert Benjamin: Durch die Reproduzierbarkeit der Kunstwerke entsteht eine kollektive Ästhetik, die gleichzeitig die Möglichkeit einer Entwicklung zur gesellschaftlichen Emanzipation bietet, wie sie auch die Gefahr einer politischen Vereinnahmung mit sich bringt.
Ein Beispiel, was diese These illustriert, ist die Materialvorlage B – die Fotografie „Frau mit Medizinball vor einer Skulptur von Josef Thorak auf dem Reichssportfeld in Berlin” von Ewald Gnilka aus dem Jahr 1937. Sinnvoll ist es an dieser Stelle anzudeuten, dass wir uns überwiegend mit der darauf abgebildeten Bronzeplastik von Josef Thorak befassen werden, auch wenn wir auch auf die Photographie als solche eingehen werden. Um die Bedeutung und die symbolische Reichweite dieser Skulptur zu verstehen, ist es unumgänglich, die Rahmenbedingungen ihres Entstehens zu erläutern. Josef Thorak war – nach Arno Breker – der zweite „offizielle” Bildhauer des III. Reichs – Das Ausmaß, der ihm von den Machthabern entgegengebrachten Anerkennung, kommt durch die Einträge seines Namens auf die Sonderliste der 12 wichtigsten unersetzlichen Künstler, wodurch er auch vom Kriegsdienst befreit wurde, und auf die 1944 persönlich von Adolf Hitler erstellte Gottbegnadeten-Liste. Thoraks Kunstauffassung, wie auch sein Stil der Monumentalplastik, entspricht den offiziellen NS-Vorstellungen der Kunst und erfüllt ihre Erwartungen und Ansprüche. Bei dem auf der Photographie abgebildeten Bronzeguss handelt es sich um eine ca. 15m hohen Bronzeplastik, die auf dem, für die 1936 in Berlin stattfindenden Olympischen Spiele, errichteten Olympiagelände (damals auch Reichssportfeld genannt) anzutreffen ist. Die Bronzeplastik auf dem Olympiagelände ist jedoch die Reproduktion einer schon 1935 entstandenen und ca. 200cm großen Skulptur mit dem Titel der Faustkämpfer bzw. Boxer. Interessant ist zu vermerken, dass Max Schmeling, ein in den 1920ern legendärer Boxer und über einen gewissen Zeitraum direkter Nachbar von Thorak, für diese Bronzeplastik Modell stand. Übrigens stand Schmeling ab 1932 mehrfach Modell für den Bildhauer. Des Weiteren ist es hier unumgänglich, noch einmal auf den Standort der Skulptur, das sog. Reichssportfeld, einzugehen. Dieses befindet sich auf einem 132h großen Hochplateau am westlichen Rand des Ortsteils Westend im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Der Architekt Werner Mach orientierte sich an den Bauten der Antike, was an den klaren geometrischen Grundformen deutlich wird, und den griechischen Entsprechungen der Olympischen Spiele. Dabei folgte er aber auch den planungspolitischen Vorgaben Hitlers, in denen man bereits eine Ankündigung der gigantomanischen Planungen der Folgezeit sehen kann, wie z.B die von Albrecht Speer entworfene (aber nie umgesetzte) Welthauptstadt Germania. Kennzeichnend für die nationalsozialistischen Grossprojekte sind eine Ausrichtung in Achsen, Führertribünen, Totenkultarchitektur, Aufmarschmöglichkeiten für Menschenmassen, architekturbetonende Großskulpturen, antikisierende Werksteinkaschierung von modernen Baukonstruktionen (wie z.B. dem Benutzen von Stahl oder Beton). Sei hier nebenbei angedeutet, dass Thoraks Bronzeplastik erst im Nachhinein in das Ausstattungsprogramm des Reichssportfelds aufgenommen wurde, weshalb sie eigentlich keinen wirklichen Bezug zur Architektur in ihrem näheren Umfeld hat, da der Faustkämpfer am Schwimmstadion steht bzw. der einzige Zusammenhang zwischen Skulptur und Umfeld ist der neoklassische Stil. Es ist interessant zu unterstreichen, dass während des III. Reichs, vor Kriegsausbruch, viele umfangreiche Bauprojekte durch staatliche Kreditschöpfung und öffentliche Bauaufträge ermöglicht wurden. Meistens handelte es sich hierbei jedoch um Staats- und Parteibauten, die überwiegend der Selbstdarstellung der NSDAP dienten, weshalb man hier von Repräsentationsarchitektur sprechen kann. Ebenfalls wurden Bauwerke in die Sphäre des architektonischen Kunstwerks erhoben – ein Kontext, in dem Bildhauerei und baugebundene Plastik eine essentielle Rolle spielten. Auch wenn nicht ganz klar definiert wurde, wie die Kunst des III. Reichs auszusehen hatte, lässt sich klar und deutlich eine Tendenz hervorheben: ein klassischer und realistischer Stil wurde bevorzugt, ebenso wie traditionsgebundene Themen (z.B. Landschaften, Landleben, Antike, Mythologie, germanische Sagen, Militarismus usw.). Im Gegensatz dazu war die Definition dessen, was nicht erwünscht und als „Entartete Kunst” bezeichnet wurde, viel deutlicher: verboten und verpönt wurden alle avantgardistischen Bewegungen und moderne Stilmittel (wie z.B. Abstraktion), Gesellschaftskritik, Spott/Satire, das Zeigen aller Formen von Andersartigkeit, Künstler oder Werke die mit Regimegegnern oder regimekritischen Gedankengut in Verbindung gebracht werden konnten (z.B Juden, Kommunisten, Religion usw.). Wie von Walter Benjamin beschrieben, geht die Entwicklung der Gesellschaft und der technischen Möglichkeiten einher mit einer gewissen Gefahr für die Kunst. Die neuen technischen Entwicklungen, wie z.B. Film, Fotografie, Serien- bzw. Massenproduktion von Kunstobjekten, die die von den Nationalsozialisten verbotene Bauhaus-Schule übrigens anstrebte, können eine Uniformisierung der Kunstauffassung, d.h. eine kollektive Ästhetik zur Folge haben. Diese kann durch Machthaber genutzt bzw. missbraucht werden, um ihre Weltanschauung im öffentlichen Raum zu verbreiten, einen Personenkult zu errichten usw. Das NS-Regime ist für den Missbrauch der Kunst und ihrer (potenziellen) Mächte ein Paradebeispiel und der Faustkämpfer von Thorak ein anschauliches Beispiel dafür.
Wie wir sehen, handelt es sich bei der Plastik um den Akt eines muskulösen Athleten. Dieser steht breitbeinig, sein Oberkörper ist leicht gedreht und wird von dem rechten angewinkelten Arm teilweise verdeckt, während sein vergleichsweise kleiner Kopf nach rechts gewandt ist. Die Gesichtszüge wirken hart, ausdruckslos und kalt, denn das Gesicht lässt keine Emotion an seine Oberfläche dringen. Gleichzeitig manifestiert sich hier der von den Nazis bis ins Exzess hervorgehobene Körperkult, wo die muskulösen, gesunden, sportlichen und den Idealen des klassischen Altertums entsprechenden Körper ein Merkmal und Symbol für das reinrassige, gesunde und allen anderen Völkern überlegene deutsche Volk arischer Abstammung sind. Diese Körperdarstellung und die damit verbundene Ideologie des sog. Übermenschen stehen im krassen Gegensatz zu den leidenden, kranken und verstümmelten Körper, wie man sie als Symbole und Allegorien für Krieg, Massentöten- bzw. Sterben, Armut, gesellschaftliche Missstände und eine als beängstigend, krank und düster empfundene Epoche, geprägt von Unsicherheiten, Nihilismus und Zukunftsängsten, in den Werken mancher avantgardistischen Künstler antrifft, wie z.B. bei Otto Dix, George Grosz oder Egon Schiele.
Nun wollen wir uns mit dem Photo von Gnilka befassen, denn auch hier lässt sich vieles veranschaulichen, denn man sieht nicht nur Thoraks Bronzeplastik, sondern auch eine junge Frau in Sportkleidung und einen Medizinball haltend, die auf dem Betonsockel direkt neben der Skulptur steht. Die junge Frau trägt geöffnete, leicht gewellte, halblange, dunkle Haare, einen für die 1930er Jahre üblichen hellen, engen und kurzen Sport- bzw. Turnanzug und sie hat eine schlanke und sportliche Figur, aber dennoch weibliche Rundungen. Die Pose ähnelt der der Skulptur, sei es das Halten des Medizinballs. Auch ihr Gesichtsausdruck wirkt eher emotionslos und äußerlich entspricht die Frau dem von den Nationalsozialisten anerkannten Schönheitsideal. Der Hintergrund besteht nur aus einem hellen, wolkenlosen Himmel, wodurch die beiden Figuren zentral sind. Man kann das Photo auf verschiedene Weisen interpretieren, aber wir wollen hier nur zwei vorschlagen. Erstens kann man es in einer, gegenüber der NS-Ideologie, linientreuen Perspektive deuten: Beide Figuren stehen für den deutschen, arischen und rassisch reinen Übermenschen und verkörpern dessen Idealvorstellungen für das männliche und das weibliche Geschlecht. Die Frau symbolisiert natürliche Schönheit, Fruchtbarkeit, Mutterschaft usw., während der Mann für Heldentum, Stärke, Vaterlandsliebe und Kampfgeist steht. Interessant ist jedoch, dass die Frau nur halb so groß ist, wie die Bronzeplastik, was für die Unterordnung der Frau gegenüber dem Mann stehen kann. Ebenso wird der nackte, männliche Körper durch die Bronzeplastik verkörpert, während die weibliche Figur eine Frau aus Fleisch und Blut ist, die zwar leicht bekleidet, aber keinesfalls nackt ist. In der Tat wurden in der NS-Kunst fast nie nackte weibliche Körper gezeigt, da dies als unsittlich und unmoralisch galt. Da die Weiblichkeit für Schönheit und Fruchtbarkeit steht, wäre ein nackter weiblicher Körper sicher als zu erotisch und aufreizend empfunden worden. Im Gegensatz zu dieser Interpretation, kann man das Bild aber auch als NS kritisch deuten: in diesem Falle wäre die Darstellung der Männlichkeit in Form einer Bronzeplastik ein Sinnbild für Entmenschlichung, fehlender Individualität und kritischen Denkens, wie auch ein Symbol für die Härte, Gefühlskälte usw. des NS-Regimes. Die Frau hingegen stände für die Unterwürfigkeit der Menschen gegenüber dem Staat, der sie durch seine Macht und seinen Größenwahn, wie auch durch sein Streben nach allgegenwärtiger Kontrolle, klein, schwach und ohnmächtig erscheinen lässt. Hier kann man eine Parallele mit dem 1928 von Erich Kästner veröffentlichten Gedicht „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?” erstellen: „Dort wachsen unterm Schlips Gefreitenknöpfe./ Und unsichtbare Helme trägt man dort./ Gesichter hat man dort, doch keine Köpfe./ Und wer zu Bett geht, pflanzt sich auch schon fort!” (V. 5-8.) und dann noch „Selbst Geist und Güte gibt’s dort dann und wann!/ Und wahres Heldentum. Doch nicht bei vielen./ Dort steckt ein Kind in jedem zweiten Mann./ Das will mit Bleisoldaten spielen.” (V .21-24).
Die Nationalsozialisten haben schon kurz nach der Machtergreifung in die Künstlerwelt eingegriffen und alles daran gesetzt, die Kunst für ihre Zwecke zu nutzen. Deswegen haben sie schon 1933 den Kulturbereich zentralisiert und mit einem allumfassenden Kontrollapparat überzogen. Schon am 13. März 1933 gründete Goebbels das „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda” und das Gesetz des 22. Septembers 1933 brachte die Bildung der Reichskulturkammer und ihrer 7 Unterkammern (z.B. Reichsschriftumskammer, Reichspressekammer usw.) mit sich. Danach war die Berufsausübung nur noch Mitgliedern gestattet, während alle anderen Künstler, denen (aus welchem Grund auch immer) die Mitgliedschaft verweigert wurde, ein Berufsverbot erhielten. Demzufolge lässt sich sagen, dass die Nationalsozialisten schon am Anfang darauf aus waren, alle Formen künstlerischen Schaffens, wie auch alle aktiven Künstler, in ihre Dienste zu stellen. Sie haben somit voll und ganz die Macht, das Potenzial und den Einfluss der Kunst auf Menschen und Gesellschaft ihrer Ideologie und der eigenen Darstellung unterworfen.
Autorin: Dr. Natalia Teuber-Terrones, 2025
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