1. Einleitung: Bedeutung von Dada in der Fotografie
Die Dada-Bewegung, entstanden 1916 im Zürcher Cabaret Voltaire, gilt als eine der radikalsten künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts. Sie war weniger ein Stil als vielmehr eine Haltung: der bewusste Bruch mit tradierten Kunstnormen, die Ablehnung rationaler Systeme und die Hinwendung zum Absurden, Spontanen und Subversiven. Hans Richter, selbst Teil der Bewegung, formulierte: „Dada ist keine Kunstbewegung, sondern ein Geisteszustand“.^1
Während Malerei, Performance und Literatur im Zentrum standen, spielte auch die Fotografie eine zentrale Rolle – nicht als reine Dokumentation, sondern als Experimentierfeld. Dadaist*innen nutzten sie, um traditionelle Bildkonzepte zu dekonstruieren und neue ästhetische Verfahren wie Fotomontage, Collage und Solarisation zu entwickeln. Raoul Hausmann schrieb später: „Wir wollten die neue Optik der Welt sichtbar machen, gegen die alten Kunstlügen“.^2
Die Bedeutung der dadaistischen Fotografie liegt damit in ihrer Funktion als ästhetische und politische Praxis, die das fotografische Bild von der reinen Abbildung zur kritischen Konstruktion transformierte.
2. Wichtige Fotokünstler und ihre Ansätze
Raoul Hausmann (1886–1971)
Hausmann gilt als einer der zentralen Protagonisten der Berliner Dada-Szene. Er entwickelte die Technik der Fotomontage, bei der Fragmente von Fotografien aus Zeitungen und Magazinen zu neuen, oft satirischen Kompositionen zusammengesetzt wurden. In Schriften bezeichnete er die Methode als „die neue visuelle Sprache unserer Zeit“.^3 Sein Werk „Der Kunstkritiker“ (1919/20) ist paradigmatisch: Eine satirische Attacke auf bürgerliche Kultur und die Institution Kunst.
Hannah Höch (1889–1978)
Höch war die einzige Frau im engeren Kreis der Berliner Dadaisten und eine Pionierin der Fotomontage. Ihr Werk „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands“ (1919) gilt als Schlüsseldokument der Weimarer Kulturkritik. Höch erklärte selbst: „Meine Montagen sind ein Versuch, die Welt aus den Bruchstücken der Wirklichkeit neu zusammenzusetzen“.^4
John Heartfield (1891–1968)
Heartfield nutzte Fotomontage als politische Waffe. Besonders in den 1920er und 1930er Jahren veröffentlichte er in der Arbeiter-Illustrierten Zeitung Werke, die die NS-Propaganda entlarvten. Seine berühmte Montage „Adolf, der Übermensch“ (1932) zeigte Hitler, dessen „Nahrung“ in Form von Geldscheinen direkt von Großindustriellen kommt. Heartfield betonte: „Benutze Foto als Waffe“ – ein programmatischer Satz, der seine Haltung auf den Punkt bringt.^5
Man Ray (1890–1976)
Der US-amerikanische Künstler Man Ray experimentierte in Paris mit Verfahren, die eng mit Dada und Surrealismus verbunden waren. Seine Rayographs (ab 1922) entstanden ohne Kamera durch direkte Belichtung von Objekten auf Fotopapier. Über diese Experimente sagte er: „Ich habe die Fotografie von der Tyrannei der Kamera befreit“.^6
Christian Schad (1894–1982)
Schad entwickelte die Technik der Schadographie (1919/20), bei der er zufällige Gegenstände auf lichtempfindliches Papier legte. Er verstand seine Werke als spontane Bildexperimente und erklärte: „Es sind Dada-Bilder der chemischen Natur“.^7 Seine abstrakten Kompositionen lösten die Fotografie endgültig vom dokumentarischen Anspruch.
3. Unterschiede und Konzepte: Von Collage bis Landschaft
Obwohl die genannten Künstler*innen ein gemeinsames Fundament im Dadaismus teilten, unterschieden sich ihre Konzepte deutlich:
1. Politische Dimension:
Heartfield nutzte Fotografie explizit als Agitationsmittel, während Höch und Hausmann gesellschaftliche Themen ironisch und fragmentarisch bearbeiteten.
2. Formale Experimente:
Man Ray und Schad konzentrierten sich stärker auf das Materialexperiment und führten die Fotografie über die Kamera hinaus.
3. Kritik am Dokumentarischen:
Die Dadaist*innen stellten die vermeintliche Objektivität der Fotografie radikal infrage. Wie Peter Bürger bemerkte: „Die Fotomontage war die Verweigerung des schönen Scheins“.^8
Anwendung auf Landschaftsfotografie
Ein Vergleich zeigt den Bruch mit Traditionen: Während klassische Landschaftsfotografie (z. B. Ansel Adams) auf harmonische Naturdarstellung zielte, dekonstruierten Dadaist*innen die Idee von „Landschaft“.
Eine dadaistische Landschaft war eine Collage aus Maschinenteilen, Architekturfragmenten und Naturfotografien – ein ironisches Abbild der Moderne. Hannah Höch etwa verband in Montagen organische Formen mit industriellen Strukturen. Damit machten die Künstler*innen sichtbar, dass Landschaft nicht nur Natur, sondern auch ein Kulturkonstrukt ist.
4. Aktualität des Dadaismus in der Fotografie heute
4.1 Politische Bildkritik
In Zeiten von sozialen Medien, Memes und digitaler Manipulation bleibt die dadaistische Strategie relevant. Politische Satire durch Bildmontage – von Karikaturen bis Internet-Memes – steht direkt in der Tradition Heartfields.
4.2 Experimentelle Verfahren
Zeitgenössische Künstler*innen wie Wolfgang Tillmans oder Thomas Ruff setzen auf digitale Experimente. Tillmans erklärte: „Mich interessiert, was das Material Fotografie alles leisten kann“^9 – ein Gedanke, der direkt an die Schadographien anschließt.
4.3 Theoretische Relevanz
Dada verdeutlichte früh: Bilder sind keine neutralen Abbilder. In Zeiten von Deepfakes und KI-generierten Bildern wird diese Einsicht neu bestätigt.
4.4 Pädagogische Dimension
Die Auseinandersetzung mit Dada ist in der fotografischen Ausbildung zentral: Sie lehrt das kritische Sehen und den Zweifel an medialer Evidenz.
Wie Richter resümierte: „Dada war eine Revolte gegen die Kunst, aber auch gegen die Welt, die diese Kunst hervorgebracht hat“.^10 Dieser kritische Impuls macht den Dadaismus bis heute aktuell.
Fazit
Die dadaistische Fotografie war ein entscheidender Schritt in der Transformation des Mediums: von der Abbildung zur Dekonstruktion. Hausmann, Höch, Heartfield, Man Ray und Schad entwickelten Verfahren, die zwischen politischer Agitation, formaler Innovation und spielerischer Ironie changierten.
Heute zeigt sich, dass Dada mehr als eine historische Episode war: Es ist ein Paradigma fotografischer Avantgarde, das unsere Bildkultur bis ins digitale Zeitalter prägt.
Literatur
1. Richter, Hans (1965): Dada. Kunst und Antikunst. Köln: DuMont.
2. Ades, Dawn (1976): Photomontage. London: Thames and Hudson.
3. Hausmann, Raoul (1921): Material der Malerei – Plastik – Architektur. Berlin.
4. Höch, Hannah (zit. nach Ades 1976).
5. Heartfield, John (1932): Zitat aus dem Katalog zur Arbeiter-Illustrierte Zeitung
6. Naef, Weston (1989): In Focus: Man Ray. Los Angeles: Getty Museum.
7. Dittmar, Jens (1993): Christian Schad und die Schadographien. München: Schirmer/Mosel.
8. Bürger, Peter (1974): Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
9. Tillmans, Wolfgang (2001): Interview in: Artforum International.
10. Richter, Hans (1965): Dada. Kunst und Antikunst